Warum das Tanztheater „Wien tanzt mit Ukraine“

 

In der Nacht vom 22. auf den 23 Februar 1942 schied Stephan Zweig freiwillig und ‚klaren Geistes‘ aus seinem Leben, in einer Stadt Brasiliens, mitten im Urwald, ziemlich weit weg von Europa. Dieses Europa, seine geistige Heimat, hatte sich in seinen Augen selber vernichtet und die Welt seiner eigenen Sprache schien ihm untergegangen. Warum diese tragischen Worte an den Anfang des Versuches stellen, meine Motivation für das Tanzprojekt „Wien tanzt mit Ukraine“ in Worte zu fassen?
Vorrangig hat das mit Hong zu tun, eine der Mitwirkenden, die aus China nach Wien kam, um hier ihre Doktorarbeit zu recherchieren. Sie nahm an unserem Projekt teil, obwohl es mit ihrer akademische Arbeit fast nicht zu vereinen war und nur durch die solidarische Unterstützung ihrer Universitätskollegen möglich wurde. Essay Termine wurden verschoben, geplante Vorträge von anderen ersetzt – ‚Hong hat keine Zeit, sie tanzt‘, hieß es bei den anderen Doktoranden. Nicht, dass dies alle verstanden hätten, aber wer Hong kannte, und dass sie ihre Gründe haben musste, der deckte sie.
Auf der Abschiedsfeier unseres Projektes erwähnte Hong Stephan Zweig, und seinen Freitod, fast auf den Tag genau– eben nur 8 Jahrzehnte vor Russlands Einfall in die Ukraine. Und sie sprach von ihrer eigenen Nacht vor dem 24. Februar 2022, von ihrer Ahnung über die kommenden Ereignisse und davon, wie sie sich damals mit Stephan Zweigs tiefer Verzweiflung über unsere europäische Kultur befasste. Genau in dem Moment kam mir blitzartig der Impuls, mich in diesen Zeilen über meine Motivation zum Projekt auf Hong und auf Stefan Zweig zu beziehen. Denn auch unser Projekt hat ja unmittelbar mit dem jetzigen Krieg zu tun, reagiert auf seine unheimlichen Prognosen.
Die Parallelen sind eindeutig: auch der jetzige Krieg manifestiert eine Aneinanderreihung immer wieder neuer Tabubrüche, greift unsere mit großen Mühen etablierten europäischen Grundwerte direkt an, ja will sie regelrecht zerlegen. Aber die Situation jetzt hebt sich auf wunderbare Weise von der 1942 ab. Zumindest wie ich die Dinge sehe. Genau darin lag der Impuls zu diesem Projekt. Er ist positiv. In ihm vibriert ein großer Optimismus.

Je weiter wir uns Flüchtlinge aus der Ukraine weg vom Kriegsschauplatz bewegten, in den Zügen, den Bussen, mit Pausen in den Lagern, den Studentenheimen, je näher kam uns der Krieg. Wir verbrachten den Großteil des Tages an unseren Telefonen, sprachen mit den Daheimgebliebenen, erhielten Videos von Aufmärschen in Kiew, von Großmüttern die mit den Fäusten wedelten, von singenden Menschen in Charkov, die den Text der ukrainischen Verteidiger der Schlangeninsel vertont hatten. Auf den Befehl der russischen Besatzer :‘ergebt euch oder wir machen euch kalt‘ erwiderten die ukrainischen Soldaten: Russische Soldaten, verp…euch‘ und zeigten den Stinkefinger..‘ Angeblich wurden einige tatsächlich erschossen, nicht alle. Aber keiner ergab sich.
Wir klemmten unsere Ohren an die Telefone, versuchten die Melodie zu lernen, die sie dort in Charkov auf der Straße sangen – und zitterten. Hier im ehemaligen Pionierlager, bei drei warmen Mahlzeiten am Tag, weiß ich nicht wer von uns so, aller Angst erhaben, reagiert hätte. Es tat weh im Magen, die Bilder zu sehen. Das Zittern war ein Reflex des Überwältigtwerdens zusammen mit einer schier grenzenlosen Bewunderung für so viel Todesmut und Kampfeswillen. Es versetzte mich vom ersten Tag an in Sprachlosigkeit. Erst im Tanzprojekt fanden Szenen aus den Videos ihren Ausdruck. Einmal geht eine Phalanx mit siegesgewissem Stampfen aufs Publikum zu, Kopf zur Seite, zwei Schritte zur Seite, die Knie spitz hochgeworfen. Dann den Kopf auf die andere Seite, wieder zwei Schritte und zweimal spitze Knie. Alle singen das Lied, ‚Russki soldati idite na… russki soldati idite na. … Das ordinäre Wort fällt aus, obwohl es angeblich in diesem Kontext schon salonfähig geworden ist.
Andere Szenen aus den Videos von der Front flossen ins Tanzprojekt. Dort gab es eine Begebenheit, wo eine Gruppe Dorfbewohner – gefilmt von der Seite des -Dorfes – langsamen, bestimmten Schrittes auf den einrollenden Panzer zugeht. Beide haben das gleiche Tempo, der Panzer und die Dorfleute. Einer wird anhalten müssen, sonst gibt es zerquetschtes Menschenfleisch. Man spürt die beiden Kräfte im Trupp der Dorfleute: ein Hinstreben, gleichmäßig wie auf Schienen, geladen mit der Entscheidung, nicht anzuhalten und gleichzeitig etwas, das sie zurückzieht mit genauso viel Kraft. Wer das Video sieht, spürt die zwei Strömungen, spürt ihr inneres Zittern. Als die Dorfbewohner zum Tank kommen legen sie die Hände auf ihn – er kommt zum stehen. Das Dorf scheint sich gegen den Panzer zu stemmen – eine Weile passiert gar nichts. Dann weicht er langsam zurück. Der Soldat innen drinnen hat den Rückwärtsgang eingelegt. Er ist überwältigt worden von dem Grenzenlosen in diesen Männer und Frauen auf der andren Seite der Panzerwand, die nur ihn schützt.
Wir im Flüchtlingslager waren fast immer nur dort, mitten drin im Herzen der Ukraine bei den Kämpfenden. Mir schien, das gesamte ukrainische Volk war eingestimmt auf diese unabdingbare Bereitschaft zum Kampf ums Äußerste, koste es was wolle. Ich erinnere mich an das ständige Flattern meines Zwerchfelles bei den Nachrichten und dem fast physischem Verlangen, irgendwie Teil zu nehmen, einen Beitrag zu schicken. Aber was konnten wir hier auf der Flucht tun – alles ausschließlich Frauen und Kinder?Verwundete aus den Schützengräben ziehen? Verbände anlegen, Wasser verteilen, Lastwägen mit Verpflegung an die Front fahren? Das mussten die dortigen tun. Wir konnten nichts tun. Es war schwer zu ertragen, vor allem weil uns an jeder Station der Flucht Freiwillige mit Wasserflaschen, Früchten, Teddybären und überströmender Herzlichkeit begegneten. Nicht WIR verdienten diese Zuwendung.
Als ich am ersten Tag unserer Ankunft in Wien große Plakate mit der Aufschrift ‚Support for Ukrainian Artists‘ sah, wusste ich in dieser Sekunde, was ich machen würde: ein Tanzprojekt bestehend aus zwei Gruppen: den ankommenden Ukrainern‚ und den sie aufnehmenden Wienern. Darin unsere Geschichte erzählen von der Flucht, dem sich Losreißen aus der einen Kultur bis zum Sicheingewöhnen in die andere, mit all ihren schwierigen und beglückenden Momenten. Endlich etwas tun – ein riesiger Befreiungsschlag!
Endlich etwas zurück schicken und nicht nur von den grausigen Nachrichten erdrückt werden. Unerträgliches passiv ertragen zu müssen macht krank, es künstlerisch umzusetzen macht gesund. Dazu die vielen anderen Wirkungen eines derartigen Projektes: Die Menschen können in anderer Form teilhaben, erlebte Geschichte wird anders wahrgenommen. Wir rücken zusammen. Eine Hommage an die Kämpfenden. Eine Hommage an Wien.
In einer solchen Show würde der Krieg zitiert, aber auch die Wärme der Wiener, die Schwierigkeiten für beide Seiten, wie sich zurechtfinden ohne Sprache, wie mit den Fremden umgehen? Ganz so einfach nicht. Integration? Wie geht das eigentlich genau? Es gibt Methoden. Am Ende stehen alle da und wundern sich, wie das klappen konnte. Denn in dieser historischen Situation geht es um die Frage, wie bewältigen wir diese Ereignisse, werden nicht von ihnen korrumpiert, sondern wachsen an ihnen? Wir sind mitten drin in einem der großen Themen dieses 21. Jahrhunderts.: Wie miteinander auskommen, wie dem Fremden Freund werden? Mein Thema

In den letzten zwei Jahrzehnten meiner Arbeit hat mich immer mehr das große Vermischen interessiert. Früher waren es die künstlerischen Elemente, ungewöhnliche Kombinationen von Instrumenten, angeblich nicht kompatible Stile. Aber in der letzten Zeittztlich sind es die Menschen, die man eigentlich nicht gemeinsam in einem Projekt vereint. Profis mit nicht Profis, Menschen mit sehr verschiedenen Voraussetzungen und Fähigkeiten, Menschen aus verschiedenen Sphären, die sich unter normalen Umständen aus dem Wege gehen würden. Und Menschen aus verschiedenen Ländern, die keine andere gemeinsame Sprache haben, als den Tanz. Und Unerwartetes passiert: Je größer die Distanz zwischen den jeweiligen Hintergründen, je größer die Dynamik, die sich in dem Projekt entwickelt. Und die Dynamik ist immer positiv. Das war jeweils die überraschende Erfahrung. Das wusste ich einfach. Hatte also keine Angst.
Dazu meine wachsende Überzeugung, dass jede unserer Handlungen oder Nichthandlungen eine Wirkung hat und damit eine ungeahnte Bedeutung. Wir können und wir müssen uns mit wachsender Dringlichkeit an der Gestaltung unserer Welt beteiligen. Wir leben in einer Welt, sie gehört uns allen und wir formen unser gemeinsames Schicksal, ob wir wollen oder nicht. Und klar wollen wir . Und jeder kann sich einbringen, eben mit dem was er kann, mit dem was er ist.
Irgendwann hatte ich kapiert: es ist alles politisch, weil alles zusammenhängt und meine Tanzprojekte sind es auch. Sie können gar nicht anders. Kunst bietet ein Stück Freiheit, der Realität neue Farbe zu verleihen, ganz einfach weil Phantasie grenzenlos ist. Und so ein Projekt, so mitten im Auge der Zeitgeschichte – klar war das aufregend.
Und noch etwas, das mich inspirierte: Wenige Tage nach dem Einfall der russischen Truppen im Februar sprach Herr Scholz, unser Bundeskanzler, von einer Zeitenwende. Bin ganz seiner Meinung: Ja, zunächst mussten wir Allianzen bilden, die Wehrhaftigkeit hochschrauben, um die Ukraine zu unterstützen. Das ist jetzt angesagt. Dieser phänomenale Übergriff darf unter keinen Umständen mit Erfolg gekrönt werden. Die zerstörerische Wirkung auf das mühsam etablierte fragile Regelwerk der letzten 70 Jahre wäre fatal. Aber wenn Herr Scholz mit der Zeitenwende eine erneute Trennung der Weltgemeinschaft in Blöcke meint, bin ich nicht dabei. Zeitenwende wie ich sie sehe erkennt jenseits der jetzigen kriegerischen Situation ein ganz anderes Bild. Die Wende besteht nicht in dem Ausbau unserer Abwehrkräfte, sondern der Stärkung unserer Integrationskräfte. Diese Wende ist ein gigantisches Unterfangen – es geht um das Entfachen einer großen zivilisatorischen Bemühung auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Wir müssen Denkstrukturen verändern, die Vorherrschaft des Status Quo bekämpfen wenn er der Gemeinschaft schadet oder der Gesundheit unseres Planeten, müssen Wertigkeiten in ihrer Tiefe auf ihre Nützlichkeit für das Gesamte überprüfen. Wir müssen weg vom Fokus auf den unmittelbaren Nutzen für uns allein hin zu einem, der eine Balance anstrebt zwischen heute und morgen zwischen mir und den anderen, wir müssen wegrücken vom Primat des Materiellen über das Ideelle hin zu einer Form des Lebens in der wir unseren echten menschlichen Bedürfnissen Rechnung tragen und gleichzeitig mehr Bewusstsein entfalten für die Konsequenzen unseres Handelns.Wir müssen konkret an der Friedensfähigkeit unserer Welt arbeiten und ihre Konflikte in ihrer Genesis begreifen lernen.
Kriege und Konflikte haben viele Ursachen, sichtbare, unsichtbare, versetzte, direkte, ökonomische, menschliche. Wenn es um die menschlichen geht stehen am Anfang eines Konfliktes nicht selten bösartige Mechanismen wie Ausgrenzung, Rassismus, Gier, Hetze, Hass und vor allem – Angst. Ghandi, der große Friedensspezialist, sagte: they think its hate. Its not hate. Its fear. Nicht unwahrscheinlich dass sie alle aus der Angst entstammen, diese bösen Mechanismen. Und damit sind wieder mitten im Thema Integration und bei unserem Tanzprojekt. Kurz: beim Unterfangen ‚Dem Fremden Freund werden‘.
Da gibt es unzählige Techniken – Anti-Angst Techniken – damit habe ich jahrelang experimentiert. Und auch das wusste ich in dieser ersten Sekunde bei der Ankunft in Wien: Bei einem ‚Wien tanzt mit Ukraine‘ gäbe es viel Bekanntes aber wie immer in solchen Projekten, viel Unbekanntes. Weiß ich denn wo das Projekt hinsteuert? Natürlich nicht, aber es macht unglaublich viel Spaß, sich da hinein zu stürzen, Räume für Kreativität zu schaffen und zu sehen wie es sich entwickelt. Eine unwiderstehlich verlockende Inspiration.
Dabei ist alles sehr einfach, hat mit Spontaneität, ursprünglicher Freude an Bewegung, Beobachtung und wachsender Neugierde und Lust am Unbekannten zu tun. Und wenn man jedes Mal erlebt, wie viel Freude sie alle am Entdecken des Bekannten im Unbekannten haben oder die Freude am anderen weil er anders ist, und wenn man sieht wie Musik über alle Grenzen uns vereint und wie der natürliche Zustand des Menschen ein freundlicher, dem anderen zugewandter ist, dann kommt eine große Hoffnung auf. Dann kommt auch der Glaube auf, dass wir als Zivilisation vielleicht doch die große Aufgabe bewältigen, uns als Teil einer Welt zu fühlen, für sie Verantwortung zu übernehmen, ihr zu schenken was wir haben, weil wir selber in jeder Weise schon in der Fülle sind. Ein derartiges Tanzprojekt könnte ein winziger Punkt werden am Horizont dieser größeren Wende.
So viel zu der Summe meiner Inspirationen für dieses Projekt.

Und was die Situation in Europa in 2022 angeht, ist sie in meinen Augen eine andere als die, wie sie Stefan Zweig empfand. Die Reaktion Europas auf den Angriff auf die Ukraine zeigt, dass sich unsere geistige Heimat Europa nicht selbst vernichtet hat, noch dass sie sich vom Angreifer vernichten ließe. Im Gegenteil: die Ukraine erfährt eine nie dagewesene Welle der Solidarität und Unterstützung. Selbstverständlich ist diese Reaktion mehr als einem spontanen Mitgefühl mit dem Angegriffenen geschuldet. Sie ist auch strategisch, hat unübersehbar weite Auswirkungen, fließt zusammen mit anderen chronischen Krisen. Und diese anderen Krisen, die jetzt besonders sichtbar werden, sind die Konsequenzen von früheren politischen Fehlern und Unterlassungen wie das Nichtzustandekommen einer neuen Friedensregelung nach dem Kalten Krieg, die horrenden Vermögensunterschiede innerhalb und zwischen den Ländern, das unkontrollierte ressourcenvernichtende Wirtschaftswachstums, nur um einige herauszugreifen. Krieg kann auf Dauer nur kontrolliert werden, wenn diese Probleme strukturell gelöst werden.
Aber in meinem Augen gibt es Hinweise, dass Europa und ein wichtiger Anteil der restlichen Welt sich heute – ganz im Gegenteil zum Zeitpunkt von Stefan Zweigs Selbstmord vor 80 Jahren – seiner kulturellen-zivilisatorischen Aufgabe immer akuter bewusst wird. Es weiß auch um die Notwendigkeit, diese Konflikte in ganz neuen Zusammenhängen und mit neuen Wertigkeiten, neuen Denkmustern zu sehen. Siehe Wende. Wie lange die bestehende Notsituation noch dauert ist ungewiss, aber was seine Werte und Einsichten angeht, wird Europa gestärkt und vereinter aus den Folgen des 24. Februars 2022 hervorgehen.

Wien, 27. November 2022
Carola von Herder